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Wahrheitslüge

Am nächsten Tag war der Himmel ziemlich bedeckt, als ich das Haus verließ, und daran hatte sich nichts geändert, als ich die Schule erreichte. War das ein schlechtes Omen? Ich hatte fast den ganzen gestrigen Tag versucht, ihr Lächeln aus dem Kopf zu bekommen, aber vergeblich, was ich auch tat, der Eindruck blieb. Nur warum, das hatte ich immer noch nicht heraus-gefunden.
Da die Schüler in unserer Klasse in verschiedene Kurse eingeteilt waren, hatten wir in den ersten Stunden getrennt, danach wieder zusammen Unterricht, und so besorgte ich mir wie jeden Morgen meinen Kakao und wollte dann geduldig in der Pausenhalle auf das Klingelgeräusch warten, wurde aber von ein paar Schulkameraden aufgehalten, die sich bei mir nach den Haushaufgaben erkundigten. Sie hatten sie wie immer aus reiner Faulheit nicht gemacht. Jedenfalls klingelte es kurz darauf, und nicht lange danach begann auch der Unterricht.
In dieser Stunde waren praktische Kenntnisse mehr gefordert als theoretische, was bei einigen Schülern immer zu einer mehr oder weniger regen Unterhaltung führte. Bisher hatte ich noch nicht gehört, daß über mich und die »Dämonin«, wie sie vom Rest der Klasse genannt wurde, im großen Stil gelästert und getratscht wurde, aber ich hatte so eine Ahnung, daß etwas im Gange war, was mir nicht gefallen würde. Einer meiner Mitschüler war besonders bekannt dafür, sich zu gern in den Mittelpunkt zu stellen und mit absolutem Unsinn Eindruck zu schinden. Deshalb ging von ihm die größte Gefahr aus, denn da er sich mit Vorliebe über jede Kleinigkeit lustig machte, war es nur eine Frage der Zeit, wann er es auch bei mir tun würde.
Einige meiner Mitschüler unterhielten sich leise, kicherten, sahen ab und zu in meine Richtung und redeten dann weiter. Unsere Lehrerin fragte einmal dazwischen, was denn heute so lustig wäre, und bekam zur Antwort, die Laune heute sei eben so gut. Ich ignorierte es einfach und konzentrierte mich ganz auf meine Arbeit, bis es klingelte.
Ich ging in die Pausenhalle. Dort ging es zu wie immer, ein paar Schüler saßen in einer Ecke auf ihren Stühlen, die vor längsseits stehenden Tischen standen, und unterhielten sich, andere standen und redeten miteinander und ein verliebtes Paar war eifrig damit beschäftigt, Zärtlichkeiten auszutauschen. Ich war froh, als das Ende der Pause eingeläutet wurde und die nächste Stunde begann.
Unser Lehrer, der die Tür aufschloß, teilte uns mir, er müsse noch was besorgen und käme gleich wieder, wir sollten uns schonmal setzen und ruhig verhalten. Das taten wir dann auch, allerdings nicht lange, denn meinen berüchtigter Klassengenossen hatte gerade die Angriffslust gepackt, und nach einer Weile rief er zu mir herüber:
»Na, unterhälst du dich heute wieder mit deiner Frau?«
Zum Glück hatte ich mir für diesen Fall schon geeignete Abwehrmaßnahmen überlegt und tat so, als wüßte ich von nichts.
»Meinst du mich?«
»Ja!«
»Dann weiß ich nicht, von wem du redest.«
»Na von der Neuen!«
»Wem?«
»Na der, der du deine Mappe geliehen hast.«
»Ach so, und?«
»Naja, die geht doch jetzt mit dir!«
»Wenn sie mit was geht, dann höchstes mit ihren Füßen, du Eimer.«
»Haha, wer’s glaubt. Gib doch zu, sie hat dich verhext mit ihren komischen Augen!«
»Quatsch!«
Obwohl, so ganz abwegig war es ja nicht, denn ich konnte mir die Wirkung ihres Lächelns auf mich nicht erklären. Aber es stimmte auch nicht, daß wir nun schon ein verliebtes Paar waren. Also war seine Aussage einerseits richtig, andererseits falsch, und damit entdeckte ich zweite Seite der sieben Seiten der Seltsamkeiten: Die Wahrheitslüge.
»Ich habe ihr doch lediglich meine Mappe geliehen«, erklärte ich mit Nachdruck, »mit deiner hätte sie ja kaum was anfangen können. Und irgendwer muß sie ja unterstützen.«
»Kommt ‘drauf an, bei was«, antwortete mein Gegenüber und lachte hämisch drauflos, die anderen ebenso. In diesem Augenblick kam der Lehrer herein.
Nun ja, ich war eigentlich ganz zufrieden mit mir, ich hatte die Redeschlacht zwar nicht gewonnen, aber auch nicht verloren, sondern mich ganz gut behauptet. Allerdings ahnte ich noch nicht, daß dies erst der Anfang der Wahrheitslüge war und es noch schlimmer kommen sollte. Aber es folgte erstmal wieder die große Pause, in der ich die Hälfte der Zeit damit verbrachte, für meinen Kakao anzustehen, denn heute morgen hatte ich doch tatsächlich vergessen, ihn mir zu besorgen. Der verbliebene Rest der Pause ging ereignislos vorüber, und so stand ich dann wieder vor der Tür des Klassenraums, in dem wir als nächstes Unterricht hatten. Dabei schaute ich etwas gedankenverloren auf meine Schuhe, mit denen ich mehr oder weniger unbewußt den Takt eines Liedes anschlug, das mir seit dem Pausenanfang im Kopf herumging.
Plötzlich sah ich wieder die bekannten hübschen, flachen, dunkelbraunen und fast schwarzen Schuhe vor mit auftauchen und hörte Stimme der Besitzerin:
»Hier ist deine Mappe.«
Ich sah auf und nahm sie entgegen.
»Danke, daß du sie mir geliehen hast« sagte sie und lächelte wieder. Es war wieder dieses unvergleichbar süße Lächeln, das einen sofort in seinen Bann zog.
»Gern geschehen«, gab ich zurück und verstaute sie in meiner Schultasche.
In diesem Moment geschah es: Mein vorwitziger Klassengenosse hatte sein Opfer erspäht. Schnurstracks ging er auf sie zu und fragte frech:
»He du, ich muß dich mal was fragen. Hast du zufällig was mit dem da?«
In diesem Augenblick hatte ich plötzlich das Gefühl, als hätte es geblitzt und ein lautgrollender Donner würde über uns verhallen. Es gibt ja viele Dreistigkeiten, die man noch tolerieren kann, aber was sich mein Klassengenosse hier geleistet hatte, ging eindeutig zu weit. Ich fühlte eine nie gekannte Wut in mir aufsteigen und wollte es ihm sofort heimzahlen, aber stattdessen sah ich etwas, womit ich nie im Leben gerechnet hätte:
Sie starrte den Witzbold an, mit diesem angsterregenden, dämonischen Blick, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ, und gab eine Antwort, die ich wahrscheinlich nie vergessen werde, weil sie einfach genial war:
»Frag’ ihn doch selbst!«
Sie wandte sich ab und ging zu ihrer Tasche zurück. Mein Klassenkamerad, gerade noch siegessicher, daß er sie heute aus der Fassung bringen konnte, stand eine Weile mit offenem Mund da, murmelte irgendwas Unverständliches, raufte sich die Haare und setzte sich schließlich auf den Boden. Der Schreck schien ihm direkt ins Herz und dann in die Beine gefahren zu sein.
Meine Wut war verschwunden, stattdessen jagte mir ein Schauer über den Rücken. Ich hatte zum ersten Mal die Wirkung ihres damönischen Blickes erlebt, in dem für einen Augenblick eine geradezu höllische Verachtung gelegen hatte, und ich fragte mich unwillkürlich, wie es erst war, wenn sie richtig in Wut geriet, dann mußte ihr Blick geradezu mörderisch sein. Sie konnte dafür sorgen, daß daß man sich mit einem Schlag wie im Himmel oder gleich in der Hölle fühlte, und das allein mit ihrem Blick, der also nicht nur bei mir wirkte, sondern selbst bei so vorwitzigen Menschen wie diesem Possenreißer. Mein Respekt vor ihr war ins Astromische gestiegen. Vielleicht war es auch reine Furcht.
Im folgenden Unterricht war unser Witzbold ungewöhnlich ruhig. Er wagte es nicht einmal, sich umzudrehen, denn schräg hinter ihm saß sie. Was unser Lehrer lange nicht fertiggebracht hatte, nämlich sein vorlautes Plappermaul zu stopfen, hatte sie mit einem einzigen Blick geschafft. Ich konnte es immer noch nicht recht glauben.
Aber das nächste ungewöhnliche Erlebnis mit ihr wartete schon auf mich. Es sollte nicht minder dramatisch werden, wobei es ganz anders ausfallen sollte als das letzte.

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