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Schwitzfrieren

»Klar«, sagte ich, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, »natürlich darfst du das.«
Ich bin mir bis heute nicht ganz sicher, was mich damals dazu brachte, so eine einfache Antwort zu geben (sie sich noch als folgenschwer herausstellen sollte). War es Anstand oder Neugier? Oder beides? Ich weiß es nicht. Jedenfalls schien sie diese Antwort zu überraschen, denn für Sekundenbruchteile erschien es mir, als würde sie zum ersten Mal lächeln, ganz zaghaft nur, aber es konnte auch eine Täuschung sein.
»Danke«, sagte sie, legte ihre Jacke auf den Stuhl mir gegenüber und setzte sich dann, um ihre Schulsachen hervorzuholen.
Ich versuchte, mich wieder in die Arbeit zu vertiefen, aber mir wurde schnell klar, daß es ganz unmöglich war, denn in Gedanken war ich ganz woanders. Schonmal mit einer Dämonin am Tisch gesessen, kam mir plötzlich diese Frage in den Kopf, und ebensoschnell gab ich mir die Antwort: Ja, sehr zu empfehlen. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich, daß sie nun auch ihre Hausaufgaben machte und schließlich sogar eher fertig wurde als ich, da ich in meiner geistigen Verwirrung noch mehr Fehler gemacht hatte als sonst und deshalb nochmal ganz von vorn anfangen mußte.
Gerade schaute sie aus dem Fenster. Eine Weile machte ich weiter, dann tat ich es ihr nach, um über etwas nachzudenken.
»Meinst du, das hier ist richtig?« fragte sie mich plötzlich, zeigte mir ihre Mappe und das, was sie aufgeschrieben hatte. Ich sah es mir an, obwohl es eigentlich überflüssig war, denn es war alles richtig. Mir fiel auf, daß sie eine wunderschöne Handschrift hatte, die man problemlos lesen konnte, schon deshalb ließ ich mir beim Durchsehen doppelt soviel Zeit. Und nicht nur das, auch ihre Stimme war total angenehm, harmonisch, klar und irgendwie herzlich.
»Ja ich glaube schon«, antwortete ich und wollte ihr die Mappe zurückgeben, aber plötzlich sagte sie:
»Halt, nein! Du kannst doch bei mir abschreiben. Wenn du dich beeilst, bist du noch vor der nächsten Pause fertig.«
»In Ordnung«, gab ich zurück und schaute kurz auf die Uhr. Es wurde knapp werden, mir bleiben gerade noch fünf Minuten. Also legte ich einen Zahn zu und war tatsächlich noch vor der Pause fertig.
»Geschafft« sagte ich und gab ihr die Mappe zurück. Gerade in diesem Augenblick klingelte es. Ich stand auf und brachte meine Schultasche vor den nächsten Unterrichtsraum. Die Räume an dieser Schule hatten alle seltsame Bezeichnungen, S01B04 hieß zum Beispiel „Stockwerk 1, Raum B4". Aus diesem Grund war es für jemand, der neu hierherkam, tatsächlich nicht einfach, sich gleich zurechtzufinden.
Da wir an diesem Tag nicht mehr zusammen Unterricht hatten, sah ich sie in den restlichen Stunden nicht mehr. Dafür meldete sich meine innere Stimme:
- Sie hat dir geholfen und du hast dich noch nicht mal bedankt. Das solltest du so schnell wie möglich nachholen.
- Mache ich sofort, wenn sie mir nochmal begegnet.
Aber an diesem Tag sah ich sie nicht mehr. Woran das lag, konnte ich nicht sagen, aber wenn ich ehrlich zu mir war, fand ich es schon ein bißchen schade. Deshalb nahm ich mir fest vor, die nächstbeste Gelegenheit dafür zu nutzen.
Am nächsten Tag war mein Tischnachbar immer noch krank. Ich hatte mein Vorhaben schon fast wieder vergessen, aber es fiel mir sofort wieder ein, als ich sie sah. Die erste Stunde hatten wir zusammen Unterricht und mußten vor der verschlossenen Klassentür auf den Lehrer warten. Dort stand sie, etwas abseits von den restlichen Schülern, mit dem Rücken an die Wand gelehnt und starrte vor sich auf den Boden. Alle anderen waren entweder stehend am diskutieren oder hatten sich auf den blanken Fussboden gesetzt.
Ich wußte, daß es gefährlich war, sie anzusprechen. Dazu war zweifelsohne Mut erforderlich, und der konnte rasch verfliegen, sobald mich ihr dämonischer Blick traf. Andererseits hatte ich ja sowieso nichts zu verlieren, und wenn’s schiefging, konnte ich mir immerhin sagen, ich hatte es wenigstens versucht.
Ich ging also zu ihr hin, stellte mich neben sie, lehnte mich ebenfalls an die Wand und sagte dann so unbefangen wie möglich:
»Morgen!«
Sie reagierte nicht.
Mein Herz begann mir in die Hose zu rutschen, mein Mut war sich ebenfalls am verflüchtigen und ich fragte mich, ob das, was ich vorhatte, überhaupt einen Sinn machte. Aber zum Glück kam mir eine Idee. Ich stellte mich genau vor sie, so daß sie zumindest meine Schuhe sehen mußte, und sagte dann nochmal etwas länger:
»Morgen!«
Und plötzlich sah sie mich an. Ich erschreckte mich wieder etwas und spürte wie immer diesen seltsamen Kriechstrom.
»Hm? Du meinst mich? Entschuldigung, das habe ich gar nicht mitgekriegt«, sagte sie.
Nun wollte ich meinen kurzen Text aufsagen, doch in meinem Hirn tobte das Chaos und meine Sprechmuskeln versagten, so daß ich für Sekundenbruchteile keinen Ton über die Lippen brachte. Erst jetzt fiel mir auf, daß sie lustige Sommersprossen auf der Nase hatte, sie ihr sehr gut standen. Sie sah mich mit einem aufmerksamen, gar nicht mal dämonischen Blick an, der mir sagen wollte: »Du kannst ruhig weiterreden, ich höre zu.«
Zum Glück fand ich meine Fassung wieder.
»Ich.... ich wollte mich nur für Deine Hilfe von gestern bedanken. Das... war sehr nett von dir!«
Meine Kehle war vor Aufregung verflixt trocken geworden. Ich tat so, als müßte ich kurz husten.
»Ach das«, sagte sie und lächelte, »das war doch selbstverständlich. Ich hab’s gern getan!«
Jetzt lächelte sie, zum ersten Mal sah ich es und war sofort beeindruckt. Wenn sie lächelte, verwandelte sich ihre dämonische Aura sofort in das Gegenteil um, es war direkt begeisternd, hinreißend und berauschend und brachte die ganze Umgebung zum Leuchten. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich vergessen, wer ich war, was ich war und wo ich war, sondern sah nur noch sie, ihr Lächeln und viel helles Licht um sie herum. Sowas hatte ich noch nie erlebt, noch nicht mal, als ich heftigst verliebt war, und dieser Zustand schien auch eine ganz andere Bedeutung zu haben, die ich damals noch nicht verstand. Jetzt mußte ich ebenfalls lächeln, obwohl es bei mir sicher nicht annähernd so toll aussah wie bei ihr. In diesem Moment kam jedoch unser Klassenlehrer, schloß die Tür auf und brachte mich damit ruckartig in die Wirklichkeit zurück.
Für den Rest der Stunde war ich nicht zu gebrauchen, denn dieses Erlebnis von vorhin war zu stark und eindrucksvoll gewesen und ging mir immer noch im Kopf herum. Wieso konnte mich ein einziges Lächeln so aus der Bahn werfen? Hatte ich mich in sie verliebt? Aber wenn ich mich in sie verliebt hatte, wieso war sie mir dann immer noch unheimlich? Sollte ich das jetzt vertiefen oder Zurückhaltung üben? Hatte ich das alles überhaupt wirklich erlebt, oder war es nur ein Tagtraum? Hatten es auch andere gesehen?
»Hallo da vorn, aufwachen!« hörte ich plötzlich eine strenge Stimme und wurde aus meinen Gedanken gerissen. Unser Klassenlehrer hatte mich vergeblich angesprochen und erwartete eine Antwort von mir, aber ich konnte nur ein paar gestammelte Worte über die Lippen bringen, die auch noch falsch verstanden wurden:
»Was, morgen ist Dienstag?« fragte unser Klassenlehrer erheitert, »Das haben wir ja noch gar nicht gewußt« und allgemeines Gelächter folgte. Ich mußte ebenfalls lachen, allerdings mehr aus Verlegenheit. Danach wandte sich unser Klassenlehrer zum Glück von mir ab, stellte die Frage nochmal und sah dabei zufällig unsere neue Mitschülerin an.
In diesem Moment geschah etwas Außergewöhnliches, denn zur Überraschung aller beantwortete sie die Frage nicht nur richtig, sondern sogar ziemlich ausführlich.
Ich machte nun meiner inneren Stimme Vorwürfe, an meiner Blamage schuld zu sein, denn ohne diese Geschichte wäre sie mir sicher erspart geblieben. Dafür hattest du ja ein einzigartiges Erlebnis, vergiß das nicht, antwortete sie, und ich mußte zugeben, daß sie recht hatte. Aber würde es das einzige mit unserer neuen Mitschülerin bleiben?
In der nächsten Stunde hatten wir Religion, an der sie nicht teilnahm, jedenfalls war sie zu Beginn der Stunde mit den anderen, die sich schon bei der Schulanmeldung gegen die Teilnahme entschieden hatten, verschwunden. Immerhin bewirkte diese Tatsache, daß sich mein geistiger Zustand wieder normalisierte. Da wir ohnehin einen Film sahen, kam ich nicht dazu, weiter über das Geschehen nachzudenken.
Danach kam die erste große Pause, die eine Viertelstunde dauerte, in der ich mich wie immer in die Pausenhalle setzte und meinen Kakao trinken wollte. Doch ich stellte fest, daß ich gar keinen Hunger hatte, denn mein Magen mußte von den heutigen Vorgängen ebenso beeindruckt zu sein, wie es mein Kopf gewesen war und schien nicht normal arbeiten zu wollen. Ich beschloß daraufhin, dann eben nur meinen Kakao zu trinken.
In Gedanken verloren beschäftigte ich mich schon mit den nächsten Stunden und wollte in aller Ruhe die Pausenklingel abwarten, als ich plötzlich jemand neben mir sagen hörte:
»He, du!«
Nun, mit diesen zwei Worten konnten viele gemeint sein, ich war es sicherlich mal wieder nicht. Aber so ganz sicher war ich mir auch nicht, deshalb drehte ich mich sicherheitshalber um. Was ich dann sah, war so überraschend, daß ich mich verschluckte und eine Weile husten mußte. Tatsächlich stand ausgerechnet sie neben mir und hatte wirklich mich gemeint!
»Ja?« fragte ich schließlich, von ein paar Hustenanfällen begleitet.
»Ich wollte dich mal fragen, ob du mir deine Mappe ausleihen könntest. Die von Englisch meine ich.«
»Klar«, antwortete ich, »jetzt gleich?«
»Ja, wenn es dir nichts ausmacht.«
»In Ordnung.«
»Prima, vielen Dank!« sagte sie und lächelte wieder. Ihr Lächeln war wieder so herzlich, daß es mir sehr schwerfiel, mich davon loszureißen und zu meiner Schultasche zu gehen, aber ich wußte daß die Zeit drängte. Deshalb achtete ich nicht darauf, ob sie mir folgte oder nicht, aber mein Schrittempo schien immer schneller zu werden, bis ich beim Klassenraum ankam, vor dem meine Tasche stand. Schnell öffnete ich sie, nahm die Mappe heraus und reichte sie ihr hin.
»Hier.«
Zu meiner Überraschung zählte sie die Blätter kurz durch.
»Ganz schön viel, ich weiß nicht, ob ich das bis morgen schaffe. Könnte ich deine Mappe bis übermorgen behalten?«
»Kein Problem«, versicherte ich ihr, »momentan brauche ich sie nicht so dringend, du kannst sie ruhig bis zum Ende der Woche behalten.«
In diesem Moment klingelte es. Die Pause war zu Ende.
»Wirklich?« fragte sie und lächelte, und als ich nickte, sagte sie noch:
»Vielen Dank, das ist supernett von dir. Ich muß jetzt los. Bis später!«
Sie stürmte davon, und ich sah ihr beeindruckt nach. Dieses Lächeln von ihr war unglaublich schön, und ich hätte es zu gern fotografiert, um es Tag und Nacht bei mir zu haben. In diesem Augenblick hörte ich jemand meinen Namen rufen und danach sagen:
»Na, wohl wieder ‘ne Eroberung gemacht, was?«
Natürlich stammte dieser Kommentar ausgerechnet vom größten Lästervogel unserer Klasse.
»Sehr witzig«, gab ich sauer zurück und sah mit Erleichterung, daß der Lehrer bereits im Anmarsch war. Im Unterricht wurde ich mir wieder darüber klar, was ich für ein Trottel war. Es wäre besser gewesen, erst dann loszugehen, wenn der Unterricht schon begonnen hatte und alle im Klassenraum waren, denn so hätte keiner etwas vom Ausleihen der Mappe erfahren. Jetzt mußte ich mich darauf einstellen, daß wieder wilde Gerüchte in den Umlauf gehen würden, von wegen ich hätte was mit ihr oder umgekehrt, was mir zwar nicht viel ausmachen würde, aber wie war das mit ihr? Gerade ihr gegenüber fand ich dieses Verhalten richtig grausam. Auch wenn es mir nicht leicht fiel, nahm ich mir vor, ihr nach Kräften beizustehen, wenn es zu arg werden sollte.
Eine andere Frage beschäftigte mich ebenfalls: Wie sollte ich mich in Zukunft ihr gegenüber verhalten? Höflich? Neutral? Abweisend? Damit die Gerüchte nicht noch mehr Nahrung bekamen, nahm ich mir vor, mich weitgehend neutral zu verhalten und die Dinge so zu nehmen, wie sie kamen.
Die nächsten Stunden schlichen wie eine Schnecke vor sich hin, und in den letzten beiden schrieben wir eine Arbeit, bei der es mir schwerfiel, mich zu konzentrieren. Eine Frage lautete zum Beispiel:
- Was, denken Sie, hat das für Ursachen?
Und ich schrieb als Antwort:
- Das wüßte ich auch gern.
Sofort fiel mir auf, daß ich totalen Quatsch geschrieben hatte und verbesserte es sofort. Mit einem solchen geistigen Zustand würde diese Arbeit sicher keine Glanzleistung werden, aber ich wollte wenigstens retten, was noch zu retten war. Daher war es auch kein Wunder, daß ich die volle Zeit brauchte, um alles einigermaßen zu schaffen und die Arbeit als letzter beim Lehrer ablieferte. Kurz darauf klingelte es auch schon.
Nun, dieser Tag war schonmal geschafft und ich ging erleichtert und gemäßigten Schrittes auf den Ausgang zu, ohne noch mit einer Überraschung zu rechnen. Aber plötzlich sah ich sie ein paar Meter schräg rechts von mir. Mein Verstand schlug Alarm, aber da war es schon zu spät, sie hatte sich umgedreht und mir für einen kleinen Augenblick zugelächelt, dann war sie aus meinem Blickfeld verschwunden. War das wirklich sie gewesen, oder hatte ich mich getäuscht? Und hatte ich wenigstens zurückgelächelt? Für eine Sekunde hatte ich wieder alles vergessen und konnte nicht mehr klar denken. Wie kam das bloß? Ich kam mir vor, als wäre ich mit ihrem Lächeln im Himmel und mit ihrem dämonischen Blick in der Hölle, so als würde ich praktisch ein Schwitzfrieren durchmachen. Damals wußte ich noch nicht, daß es nur die erste Seite der sieben Seltsamkeiten sein würde, die ich erleben sollte, und noch einige weitere folgen sollten. Und die nächste stand schon vor der Tür.

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